Die „Pree-Marie“ (Maria Fichtinger)

Der Burgstall in St. Georgen am Walde, nicht ganze 1000m hoch, ist die höchste Erhebung des Bezirks Perg. Weit reicht der Blick über die hügelige Welt. Seine Gipfelmauern haben eine bewegte Geschichte. In den kriegerischen Zeiten vergangener Jahrhunderte mussten Wächter nach Warnfeuern Ausschau halten, wenn schwedische Söldner raubend durchs Land zogen. Erlauer Bauern trieben ihr Vieh hinauf und verschanzten sich, wenn brandschatzende Husitten bis zur Donau vorstießen. Die Südseite des Berges fällt fast 400m steil zum Sarmingbach ab, der sich im Laufe von Jahrtausenden tief in den Weinsberger Granit eingegraben hat. In den frühen Dreißigerjahren gab es im engen Talboden einige kleine Bauern, während in den steilen Hängen und Gräben dort und da kleine Keuschen und Holzhäuschen wie Geiernester an den einst durch Brandrodung dem Wald mühsam abgerungenen Flächen klebten. Verschiedene Hausnamen wie „Ascher“ oder „Brandner“ erinnern noch an diese Erschließungszeit.

In einer dieser kleinen Keuschen wohnte, das heißt - hauste, die legendäre „Pree Marie“.

Der kleine Rauchfangkehrer machte im Jahre 1935 erstmals Bekanntschaft mit dieser Einsiedlerin. Ohne jede Vorwarnung schickte ihn der Geselle hin. Schon mit dem Hinweis, dass er nicht in den Kamin einsteige, da er nur aus aufgestellten Steinplatten bestünde und auseinanderbrechen würde und das kleine Gewölbe der schwarzen Küche dürfe er nur mit dem Bartwisch „streicheln“, weil das ganze Gewölbe nur mehr aus lockeren Steinen bestünde. Und noch etwas: Für diese Alibihandlung müsste er noch 80 Groschen kassieren.

Der kleine Schwarze kam vom „Taubeneder“ herüber und sah die Bewohnerin der Keusche am Acker, wo sie sich ihre Ration Kartoffel ausgrub. Sie ließ immer einen Teil über den Winter im Feld, erst im Frühjahr grub sie diese aus. Es war Ende April und den ganzen Winter lag eine geschlossene Schneedecke über Feld und Flur.  Dadurch gab es keine Frostschäden. Der Bub hatte sein „Grüß Gott“ noch nicht ganz ausgesprochen, da fing sie schon fürchterlich zu fluchen an und zeigte ihre braunen Zähne. „Was tuast denn du scho wieder da? I hab koa Geld“. Doch es nützte nichts, er musste seine Arbeit tun. Als er fertig war und um eine Unterschrift in die Stube wollte, versperrte sie ihm mit ihrer ganzen Fülle den Weg hinein. Doch es hatte ihm genügt, einen Blick in ihre „Behausung“ zu werfen. Am wackeligen Tisch und am Fensterbrett standen Hahn und Hühner, der Boden einen halben Meter hoch mit Stroh und Mist bedeckt und an die zehn Ziegen standen sich im Weg. In der Ecke, fast wie eine offene Feuerstelle, etwas, was ein Ofen sein sollte. Mehr sah er nicht, denn als sie ihre drei Kreuzlein ins Kehrbüchlein gemalt hatte, drängte sie sich geschickt ins Freie.

So lernte er die wohl skurrilste Persönlichkeit in seinem großen Kehrbezirk kennen und sie flößte dem Bübchen ganz schön Respekt ein. Zu ihrer Forschheit passte auch ihre Aussehen: Eine füllige Gestalt, ihr Alter nicht abschätzbar, eben so wenig wie viel Fülle auf das Konto ihrer vielen Kittel und Unterröcke ging, wo der darüber liegende jeweils die Löcher des unteren überdecken musste. Ihr Gesicht- rund, mit breiten Backenknochen, wie eine Mongolin, wulstige große Lippen und gelbe vorstehende Zähne, dazu eine dicke Schmutzschicht über ihr ganzes Gesicht, die aussah wie die verdorrte Erde der Sahelzone.

Jedenfalls waren die Krautscheuchen der Bauern in Erlau die reinsten Lagerfeldmodels im Vergleich zu ihr.

Der kleine Lehrling ahnte nicht, dass er mit ihr noch so manchen harten Strauß ausfechten werde müssen. Er brauchte noch eine Weile, bis er ihre Taktik durchschaute. Er kam im Sommer oft vor die verschlossene Haustüre und ahnte nicht, dass sie ihn auf dem einsichtbaren Weg zum „Taubeneder“ erblickte und sich in der Scheune versteckte, bis die „Gefahr“ vorbei war. Seine Gegenstrategie war dann die, dass er sich im oberhalb ihrer Keusche liegenden Wäldchen wie ein Jäger anpirschen musste, um sie zu überraschen. Doch er war nicht der Einzige, der mit der „Pree Marie“ seine Probleme hatte. Alle paar Monate machte sie sich auf den Weg nach Dimbach, um Eier umzutauschen für etwas Salz, Zünder oder ein Kännchen Petroleum fürs Ölfunserl. Da gab es nicht nur für den Mesner, sondern auch für den Krämer Alarmstufe eins. Kaum drehte er sich um, die eingebrachten Eier mussten ja verstaut werden, verschwand schon ein Schächtelchen Sacharin oder eine Spule Zwirn in die Tiefen ihrer Kittel. Der Mesner, ein gottesfürchtiger Mann, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie den Fuß nur über die Schwelle der Kirchentüre setzte, wusste er doch, dass ihr Kirchenbesuch nicht besinnlicher Andacht diente, sondern realere Gründe hatte. Regelmäßig fehlten nach ihrer Anwesenheit eine Menge geweihter Kerzen und Wachsstöcke. Dass sie ihr Gewissen dadurch nicht sonderlich belastete, hing wohl damit zusammen, dass die Kirche bei der Vermehrung ihres Vermögens auch nicht immer nach den Geboten Gottes vorging.

Weil es gleich in einem Aufwaschen ging, besuchte sie bei dieser Gelegenheit auch den Friedhof, nein- nicht um in Stille ihrer Eltern zu gedenken, ihr Grab war längst vom Rasen überwuchert, sondern um nach frischen Gräbern Ausschau zu halten, wo die meistern Grablichter zu holen waren. Vom Mesner wegen ihres frevelhaften Verhaltens zur Rede gestellt, erklärte sie ihm mit treuherzigem Augenaufschlag, dass die Toten nichts davon hätten, da sie ja im Himmel wären, während ihr irdisches Dasein in langen Winterabenden erleuchtet würde. Ja, sie war ein Unikum und viele Episoden rankten um ihre Person, bis man sie in den späten Dreißigerjahren tot inmitten ihrer Ziegen fand.

Quelle: Franz Hamminger, Lehrjahre sind keine Herrenjahre, Seite 126ff.