Dolmetscher und „Totengräber“ (Josef Puchner)
Um den 20. April 1945 herum - die Russen standen vor St. Pölten und die Amerikaner in Bayern — erhielt ich die Einberufung: Ich wurde aufgefordert, mich im Schlosse Innernstein bei Münzbach einzufinden. Meine Eltern jedoch beratschlagten, wie ich Zeit gewinnen könnte. Ich legte mich mit einer "schweren Verkühlung" ins Bett; der Hausarzt bestätigte die "Verkühlung, verbunden mit Angina" mit seiner Unterschrift.
Als Linz am 25. April den schweren Luftangriff erlebte, befand ich mich im Bett, um bei einer etwaigen Kontrolle nicht gesund angetroffen zu werden. Doch als über Dimbach ein amerikanischer Bomber brennend abstürzte, hielt es mich nicht mehr länger im Bett. Ich wollte mir das grausige Schauspiel - die Maschine glich einer Riesenfackel - nicht entgehen lassen.
In den nächsten Tagen wagte ich mich auch auf die Straße. Beim Obergrammersdorfer-Bauern hatten sich amerikanische und englische Kriegsgefangene niedergelassen. Die Gefangenen waren ohne Bewachung von Krems aus beim Nahen der russischen Truppen einfach in Richtung Westen in Marsch gesetzt worden. Nun wollten sie bei dem Bauern das Kriegsende abwarten. Mit meinem Schulenglisch gewann ich die Freundschaft der Gefangenen und spielte gelegentlich den Dolmetscher. Als am 5. Mai unvermutet amerikanische Panzerspitzen bis gegen Saxen vorgedrungen waren, verständigte ich die Gefangenen. Diese zeigten sich überglücklich. Wir bestiegen einen Hügel und horchten nach dem Kampflärm, der aus etwa zehn Kilometer Entfernung zu hören war.
Man zeigte sich allgemein froh darüber, dass die amerikanischen Truppen so nahe waren, hoffte man doch, dass der Ort nicht von den Russen, sondern von den Amerikanern besetzt werden würde. Die deutsche Gräuelpropaganda hatte den Leuten eine ungeheure Angst vor den Russen eingeimpft: Wo der Russe hinkommt, macht er alles nieder!
In der Nacht vom 5. auf den 6. Mai besetzte eine zurückweichende SS-Einheit Dimbach. Der Ort sollte verteidigt werden. Vor meinem Elternhause an der Straße nach Pabneukirchen gingen drei Geschütze in Stellung. In wenigen Stunden erwartete man den Angriff der amerikanischen Panzer.
Wir verließen das Haus und mit wenigen Habseligkeiten suchten wir bei einer befreundeten Familie Unterschlupf. Doch unterdessen erhielt ich einen neuen Auftrag. Ein Offizier suchte "zwei Hitlerjungen", die als "Melder" eingesetzt werden sollten, wenn die Verbindung zu vorgeschobenen Stellungen abbrechen sollte. Der Bürgermeister, an den sich der Offizier wandte, wählte einen Gymnasiasten und mich für diese "schöne Aufgabe" aus. In der Hofeinfahrt des Kaufhauses Riener meldeten wir uns beim zuständigen Offizier, der uns aufforderte, uns für einen etwaigen Einsatz bereitzuhalten. Wir hatten verständlicherweise ein höchst ungutes Gefühl im Leibe. Glücklicherweise wurden wir in den nächsten Stunden nicht benötigt; später verdrückten wir uns unauffällig, als bereits mehr und mehr Verwirrung aufkam. Die Amerikaner standen nämlich nicht nur vor Grein, sondern im Nordwesten auch bereits im Raume Königswiesen, wo ein amerikanischer Angriff zum letzten Mal zurückgeschlagen werden konnte. Die Deutschen hatten dabei neun Tote.
Glücklicherweise stießen die amerikanischen Truppen nicht mehr weiter vor, da Kapitulationsverhandlungen im Gange waren; außerdem war laut Konferenzbeschluss der Alliierten in Jalta das Mühlviertel ohnehin zum russischen Besatzungsgebiet erklärt worden, eine Tatsache, die jedoch erst viel später bekannt wurde.
In den nächsten Tagen lösten sich die deutschen Truppenverbände auf. Die Soldaten versuchten, sich auf eigene Faust in ihre Heimat durchzuschlagen.
Wir erwarteten stündlich die Besetzung durch die Amerikaner. Am Morgen des Christi-Himmelfahrts-Tages — am 10. Mai - erschien der spätere Bürgermeister von St. Georgen am Wald, Franz Leomann, im Hause meiner Eltern und fragte, ob ich mich an einer von ihm geplanten besonderen Aktion beteiligen würde. Die Besatzung des am 25. April abgestürzten Flugzeuges war in einem ziemlich unwegsamen Gebiet an der Absturzstelle im Walde verscharrt worden. Er meinte, die amerikanischen Besatzungstruppen würden es übelnehmen, dass man die toten Flieger nicht im Ortsfriedhof beigesetzt hatte. Er wollte nun mit einigen Helfern das Versäumte nachholen und die Toten umbetten. Ich sollte dabei helfen.
Ich empfand starke Hemmungen vor solch ungewohnter Totengräberei, doch ich wollte — meine Eltern waren einverstanden — nicht nein sagen. So zogen wir am Nachmittag des Feiertages mit Krampen und Schaufeln aus; die nötigen Särge transportierten wir auf einem Pferdewagen. Dann machten wir uns an der Absturzstelle in der Nähe des Zeitlhofer-Bauern an die Arbeit. Innerhalb einer Stunde hatten wir drei Tote exhumiert, zwei oder drei weitere lagen noch in ihren Gräbern.
Da erschien plötzlich ein Bub von einem nahegelegenen Bauernhaus und rief uns zu: "In Dimbach sind die Russen, schon seit ungefähr zwei Uhr."- Wir wollten die Nachricht einfach nicht glauben. Vielleicht handelte es sich um russische Fremdarbeiter! Als uns aber der Bub genau das Aussehen der russischen Uniformen beschrieb, hatte er uns überzeugt. Wir luden die drei Särge auf den Pferdewagen und fuhren bis zur Straße Dimbach ‑ St. Georgen. Tatsächlich, die Straße wimmelte von russischen Soldaten. Sie kamen auf Pferdewagen, die immer wieder von Lastwagen, vollgepfropft mit verwegen aussehenden Gestalten in erdfarbenen Uniformen, überholt wurden.
Ich hatte fürchterliche Angst. Zum ersten Mal sah ich mit eigenen Augen russische Soldaten, die als wahre Teufel in Menschengestalt geschildert worden waren. Was würde nun mit uns geschehen? — Vorderhand geschah gar nichts! Ein Russe versuchte, sich über unsere sonderbare Fracht zu informieren. Doch dies war ungemein schwierig, da er nicht Deutsch und wir kein Wort Russisch verstanden.
So trotteten wir, umgeben von den Soldaten, hinter unseren Särgen nach. Da winkten uns plötzlich von einem Wagen einige bärtige Soldaten freundlich zu; wir winkten schüchtern lächelnd zurück. Der Bann war gebrochen. Wir hatten plötzlich das Gefühl, dass wir uns inmitten von "Menschen" befanden; Menschen, die wohl die gleiche Sehnsucht nach Frieden wie wir hatten und die ein wahnsinniger Krieg schuldlos über tausende Kilometer hierher ins Mühlviertel verschlagen hatte.
In Dimbach stellten wir die Särge mit den Toten in die Leichenkammer. — Auf dem Marktplatz tanzten russische Soldaten zu den Klängen einer Ziehharmonika. Man sagte uns, die Truppen hätten sich bis jetzt diszipliniert verhalten, nur einige Uhren hätten den Besitzer gewechselt. Doch was bedeutete schon der Verlust einer Uhr, wenn man dafür das Leben behielt!
Freilich, in den nächsten Tagen und Wochen konnte das Alltagsleben nicht immer auf diese einfache Formel gebracht werden, doch dies gehört nicht mehr zu diesem Erlebnisbericht des Schülers, der im Herbst 1945 wieder die Schulbank drücken musste.
Quelle: Mühlviertler Nachrichten, 7. Mai 1970
- Details
- Zugriffe: 592